Montag, 10. Februar 2020

Immer neue Wege zum Meer


Ein Erfahrungsbericht zum Svendborg-Stipendium


Ich sitze am Schreibtisch, an der windigsten Ecke des Hauses, und erahne durch den Regen das Meer. Noch nie habe ich unter solch niedrigen Decken gelebt, das Gehen durch mehrere Zimmer hintereinander, mit eigezogenem Kopf an mancher Schwelle, ist wie ein Tanz. Meine Rückenschmerzen sind weg, liegt es am Tanz, der Luft, dem Sund. Ich finde die Wörter meiner Kindheit wieder, Schmetterlingsschwarm, Brombeerbeute. Ich finde meine Sprache wieder. Oft habe ich das Bedürfnis, die Haustür von innen nicht abzuschließen, und tue es dennoch spätestens in der Abenddämmerung. Beim Zubettgehen lasse ich jedes Mal das Handy auf dem Wohnzimmertisch liegen; lebe hier ohne jede Zeit, so mein Vorsatz. Nachts sind Schritte, wo niemand ist.

Bereits am ersten Tag wollte ich zu Fuß ins Zentrum von Svendborg gehen, erst nach einer Woche komme ich an. Immer neue Wege führen zum Meer, denen ich folge: lebe hier ohne jeden Ort. Als ich endlich eintreffe, finde ich: mein Lieblingscafé unter der Uhr, ein Ort unter ständiger Anwesenheit der Zeit. Ich gebe meine Vorsätze auf, versöhne mich mit Raum und Zeit.

Fast täglich sitze ich auf Jettes Stol am Skovsbostrand. Sid gerne på den til jeg evt. kommet. Ich habe Jette noch nie gesehen, oder womöglich doch, fernab ihres Stuhls, auf irgendeinem Weg, an einer Bushaltestelle, der Bank an einem Bootsanleger; eine junge blonde Frau, die ihren Hund ausführt, oder eine ältere mit grau gelocktem Haar.

Im Garten steht ein Zwetschgenbaum, erzähltest du mir vor der Anreise. Ich suche ihn vergebens, kann nicht glauben, dass er sich innerhalb eines Jahres in Luft aufgelöst haben soll. Stets führt mein Weg nach draußen mich zunächst einmal quer durch den gesamten Garten, ich will den Zwetschgenbaum nicht aufgeben. Ich finde Birnen, die dort sein müssen, natürlich, ohne sie geht es nicht. Ich finde zwei vergessene Äpfel, einen grünen, einen roten, beide nah am Stamm ihres Baumes, versteckt im Blattwerk wie ein eigens für mich aufgespartes Geheimnis. Ich entdecke eine Vielzahl wundervoller Dinge, wie man sie in jenen Gärten aufspürt, die eine neue Heimat werden.

In Hamburg bin ich still geworden, hier werde ich zu jeglichem Wort. Während mein Handy lautlos gestellt im Wohnzimmer liegt, verpasse ich: die andere Welt. Ich rufe zurück, wenn es soweit ist. Denke ich sonst in Minuten und Stunden, sind es nun Tage und Wochen. Soundsolang bis zum Abschluss der Romanüberarbeitung, soundsolang bis zum Ende des Abschnitts. Soundsolang bis zum nächsten Besuch vom Haus nebenan. Mein Takt findet den Takt des Romans, wird eins mit seinem Puls.

Doch etwas fehlt. Ich frage jemanden, der ihn kennen muss, nach dem Zwetschgenbaum. Nie habe es in diesem Garten einen gegeben, lautet die Antwort, die ich schließlich glauben muss, und so höre ich auf, nach ihm zu suchen.

Ein letzter Abschied von Jettes Stol. Ich stelle mir vor, wie sie mir irgendwo auf der Welt begegnen könnte. Sie würde freundlich lächen, sie würde Hej! sagen, niemals wäre sie lautlos, ihr Herz trüge sie in den Augen.

Am Ende bleibt: das Erinnern. An bunte Regenschirme, unter denen ich bei Sonnenschein hindurchging, an die hohe Brücke, unter der ich saß. An eine Vorstellung, wie es hätte sein können, die auch hinter dem Tatsächlichen noch nachklingt. An einen Garten, der eine neue Heimat wurde, und das Café unter der Uhr.
Bis heute fühlt es sich an, als hätte ich etwas Wesentliches vergessen, zurückgelassen; die Umrisse jenes Zwetschgenbaumes, den ich mir vor der Ankunft ausgemalt hatte, weil seine Existenz gesichert schien, ein Anker in der Fremde.
Auch dies: die Zeit. Es dauert mehrere Wochen, einen Roman zu überarbeiten. Es dauert länger, sich daran zu gewöhnen, keine Uhr im Schlafzimmer zu haben.