Sonntag, 24. Januar 2010

Katharina Hagena // Der Geschmack von Apfelkernen


Wie schmecken eigentlich Apfelkerne? Eine Frage, die ich nicht beantworten kann, denn ich habe noch nie einen Apfelkern gegessen. Grund dafür ist unter anderem, dass mit absoluter Zuverlässigkeit jeder Apfel, den ich aufschneide, Schimmel im Kernhaus hat. Ob das nun daran liegt, dass ich die falschen Apfelsorten kaufe, oder vielleicht an Dauer und Art der Lagerung, ehe die Äpfel den Endverbraucher erreichen, darüber kann ich nur mutmaßen. Ich glaube mich zu erinnern, dass die Äpfel von den Apfelbäumen meiner Großmutter, die ich als Kind gegessen habe, keine schimmeligen Kernhäuser hatten. Weil ich aber eine Erziehung genossen habe, in der das Mitessen von Kernhäusern ein Tabu war, habe ich auch in etwaigen schimmelfreien Zeiten nie einen Apfelkern probiert. Und genau hier setzt er an, "Der Geschmack von Apfelkernen" von Katharina Hagena, in den unabänderlichen Geschehnissen der Vergangenheit, im Haus der verstorbenen Großmutter, im Haus der Kindheit einer inzwischen jungen Erwachsenen.

Nach dem Tod ihrer Großmutter Bertha erbt Iris das alte Haus mit Garten. Während sie dort einige Tage verbringt, um sich darüber klar zu werden, ob sie das Anwesen behalten soll, kehren die Erinnerungen zurück, die Schicksale ihrer Familie. Auch ihr bisher unbekannte Schicksale erscheinen auf der Bildfläche. So erfährt Iris, dass ihr Großvater vielleicht nicht der leibliche Vater einer ihrer Tanten war. Sie erfährt dies übrigens vom potentiellen leiblichen Vater der Tante. Was Iris ansonsten noch widerfährt in diesen Tagen: Sie badet nackt im See und begegnet dabei ihrem Anwalt, der wiederum der Bruder einer ihrer Kindheitsfreundinnen ist ("Ich war splitternackt und er mein Anwalt.", S. 91), sie radelt in einem goldenen Ballkleid ihrer Mutter, das der Kleiderschrank in Berthas Haus hergibt, zum Baumarkt und purzelt auf dem Rückweg samt zerplatzendem Farbeimer und Fliege im Auge auf die Straße (und wird vom Anwalt aus der Farbsuppe gefischt), sie streicht das Hühnerhaus (mit Hilfe des Anwalts), sie badet nochmal nackt im See und begegnet auch dabei...na, wem wohl? Ja, und bei diesem neuerlichen Bade passiert dann endlich auch etwas mehr zwischen ihm und ihr, wenn auch nicht genug, wie sie findet. Er ist schon ein Rätsel, dieser Max. Und Iris selbst ist das bisweilen auch.

"Der Geschmack von Apfelkernen" ist kein neues Buch, aber immerhin relativ neu als Taschenbuch, und weil ich Hardcover nicht mag (die lassen sich so schlecht in Seitenlage im Bett lesen, meiner Lieblingsleseposition), greife ich meist erst zu, wenn das Taschenbuch erscheint. Ein wenig enttäuscht war ich, weil die ersten Absätze des Buches so vielversprechend gewesen waren und das Folgende dieses Versprechen zunächst nicht einlösen konnte. Nicht, dass es ein schlechtes Buch wäre. Es ist ein sehr gutes Buch. Aber die ersten Absätze gehören zu den eindringlichsten und außergewöhnlichsten des gesamten Buches. Man erfährt von "konservierten Tränen", einem durchsichtigen Johannisbeergelee, das aus über Nacht weiß gewordenen, ehemals roten Johannisbeeren gemacht wurde. Weiß wurden die Johannisbeeren im Garten seinerzeit mit dem Tod der damals 16-jährigen Anna, Berthas Schwester. Der Rest der dargestellten Familienschicksale kommt ebenfalls nicht beliebig daher, ist unterhaltsam erzählt und wartet immer wieder mit erstaunlichen Details auf. Trotz dieser Tatsachen und obwohl auch die konservierten Tränen hin und wieder ein weiteres Gastspiel geben, gibt es Strecken im Buch, die gegenüber anderen etwas blass aussehen. Wie weiße Johannisbeeren eben. Allzu banale Beschreibungen von getätigten Einkäufen beispielsweise. Im weiteren Verlauf des Buches sterben diese Stellen allmählich aus, und sie sind mir möglicherweise auch nur deshalb aufgefallen, weil das meiste in diesem Buch eben nicht banal ist.

Hin und wieder habe ich mich bei dem Gedanken ertappt, dass mir eine nicht in solch weiten Teilen "erinnerte" Geschichte lieber gewesen wäre. Das ist wahrscheinlich Geschmackssache, und ich wüsste ehrlich gesagt auch nicht, wie man die vorliegende Geschichte anders erzählen sollte. Vielleicht war es für mich das richtige Buch zum falschen Zeitpunkt. Ich stehe derzeit wesentlich mehr auf das Jetzt als auf Erinnerungen.

A propos Geschmackssache: Apfelkerne schmecken nach Marzipan. Das erfahren wir auf Seite 66.


Der Geschmack von Apfelkernen. Roman (TB)
Kiepenheuer & Witsch, Köln, August 2009
272 S., ISBN 978-3-462-04149-1, Preis 8,95 Euro

Mittwoch, 13. Januar 2010

Familie Schmitt und Profilneurosen


Ich gehe ja des öfteren auf dem Ohlsdorfer Friedhof spazieren. Das Gute daran: Er ist so groß, dass man dort schon mal eine Stunde lang herumlaufen kann, ohne jemandem zu begegnen. Das Blöde daran: Er ist so groß, dass man dort schon mal eine Stunde lang herumlaufen kann, ohne jemandem zu begegnen. Wenn man also allein sein will, dann passt es. Wenn man sich verlaufen hat, nervt es. Und ich schaffe es immer wieder, mich dort zu verlaufen. Es kann dann durchaus vorkommen, dass ich ein, zwei Stunden länger auf dem Gelände verbringe, als ich vor hatte. Ich besitze nämlich null Orientierung.

Und hier kommt Familie Schmitt ins Spiel. Wenn man eine schlechte Orientierung besitzt, entwickelt man Strategien, um sich möglichst wenig zu verlaufen. Zum Beispiel merkt man sich die Namen auf einzelnen Grabsteinen, an denen man vorbeikommt, um diese auf dem Rückweg (welcher für Menschen ohne Orientierungssinn völlig anders aussieht als der Hinweg) wiederzufinden. Wichtig hierbei: Niemals Familie Schmitt bemühen!



Denn Familie Schmitt gibt es auf dem Friedhof Ohlsdorf mindestens an jeder zweiten Ecke. Ebensowenig ist es ratsam, sich bei gängigen Nachnamen zusätzlich den Vornamen zu merken. Ist erstens umständlich und zweitens sinnlos, wenn der Mensch nicht gerade Eckebert-Friedhelm heißt. Rolf Müller beispielsweise ist selbst nach seinem Ableben noch ein übler Schurke und geistert einfach überall herum.



Da mein Gedächtnis mindestens ebenso schlecht ist wie mein Orientierungssinn, gerate ich allerdings auch bei den pfiffig ausgewählten Namen in arge Bedrängnis, weil sie mir zwanzig Meter weiter meist schon wieder entfallen sind. Und deshalb ist mir der aktuell so frostige Winter ziemlich lieb. Verschneit sieht der Ohlsdorfer Friedhof richtig hübsch aus!



Der entscheidende Vorteil am weißen Winter ist jedoch: Verlaufen ist derzeit so gut wie ausgeschlossen, weil man sich immer am Profil der eigenen Schuhe im Schnee orientieren kann. Je ausgefallener das Profil, umso leichter hat man's. Ich kaufe meine Winterschuhe längst nicht mehr nach ganzheitlicher Optik. Ich gehe nach der Sohle, im wahrsten Sinne des Wortes. Dann klappt's auch mit der Zeitplanung beim friedhöflichen Spaziergang und man kann pünktlich zum Abendessen wieder zu Hause sein...

Dienstag, 5. Januar 2010

Brett Anderson // Slow Attack


Eine alte Liebe vergisst man normalerweise nicht. Doch man kann sie aus den Augen verlieren und nach einigen Jahren feststellen, dass sie erwachsen geworden ist.

Als sich Suede damals aufgelöst haben, waren mir The Tears kein wirklicher Trost. Also habe ich den Kontakt abgebrochen und das Ganze nicht mehr weiter verfolgt, weil man nicht gerne dabei zusieht, wie eine alte Liebe sich von einem entfremdet.

Umso dankbarer bin ich, dass mich nun jemand aus meinem Dörnröschenschlaf geholt und mich auf die Solowerke von Brett Anderson aufmerksam gemacht hat. Etwas beschämt bin ich schon, davon so gar nichts mitbekommen zu haben. Wie tief kann man schlafen? Ja, ich war wohl fast schon komatös.

Und so habe ich nun das aktuelle Soloalbum "Slow Attack" von Brett Anderson gehört. Ich weiß nicht viel über Musik und ich weiß nicht viel über Literatur. Beides nehme ich mit Sicherheit anders auf als jemand, der eine vorwiegend wissenschaftliche Herangehensweise hat. Egal ob ich ein Buch lese/schreibe oder ob ich Musik höre - ich kann nur dem vertrauen, was ich dabei spüre. Bei "Slow Attack" ist es das Folgende: Sie sind noch da. Die Streicher, das Piano aus Suede-Zeiten. Auch die Sehnsucht in den Texten. Das macht es einfacher, nach all den Jahren wieder einen Zugang zu finden. Doch nötig wäre diese Verbindungslinie hier gar nicht gewesen, ich würde "Slow Attack" auch nicht anders beurteilen, wenn ich noch nie ein Suede-Album gehört hätte. Dieses Werk spricht für sich selbst, auch ohne Erinnerungen. Jeder Song stimmt, jedes eingesetzte Instrument scheint beängstigend genau an seinem Platz. Es ist ein Album wie ein guter Roman, kein Stückwerk, sondern ein perfektes Ganzes, in dem die einzelnen Titel zu einer Einheit verschmelzen. Ein unaufgeregtes Album voller trauriger, sehnsuchtsvoller Töne und Texte, die immer auch Hoffnung und Leidenschaft vermitteln. Ein Aufbruchsalbum, ein Angekommenseinalbum. Eine Slow Attack, der man sich nicht entziehen kann. Da gibt es keine Songs mit Überlänge und langen Insrumental-Passagen, die zwar in sich wunderbar sind, aber die Einheit und den Fluss eines Albums stören (wie z.B. bei "The Asphalt World" auf "Dog Man Star"), es gibt keine Eskapaden und keine Schnörkel. Hier ist alles sehr konsequent auf den Punkt gebracht, alles relevant und keine Sequenz überflüssig. Sollte ich "Slow Attack" mit einem Buch vergleichen, würde es "Herztier" von Herta Müller sein – nicht wegen der Texte, sondern wegen des Gefühls, mit dem es mich zurücklässt.

Noch etwas Schönes: Seit Suede-Zeiten hat sich Brett Andersons Stimme kaum verändert. Sie ist nicht wirklich älter geworden, aber erwachsener und ebenfalls mehr auf den Punkt. Vielleicht nicht so sehr in technischer Hinsicht wie in emotionaler.

Fazit: Eines der besten Alben, die ich je gehört habe. Noch besser als Suede. Oder auch: Wir sind nun alle ein paar Jahre älter, und das ist gut so.